Die vielen Gesichter der Gerechtigkeit

Prof. Christian Schröer im Rittersaal des Klosters St. Ottilien

Ein Studientag über Platons „Thrasymachos“

Beginn einer Veranstaltungsreihe – Prof. Christian Schröer in St. Ottilien

Zusammen mit dem Arbeitskreis benediktinischer Schulen in Bayern hat die Timaios-Gesellschaft e.V. eine Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen, die sich mit dem Erbe der Antike und seiner Aktualität für die heutige Zeit beschäftigt, unter dem Titel: Die Antike lebt! Am 7. Mai konnte nun die Auftaktveranstaltung in Sankt Ottilien stattfinden. Die Teilnehmer kamen von den Gymnasien Metten, Schäftlarn, Waldram, Ettal und Sankt Ottilien. Leider hatte die Gruppe aus Metten eine Autopanne, so dass sie auf halbem Wege wieder umkehren musste. Es waren dennoch 34 Teilnehmer mit begleitenden Lehrkräften anwesend.

Prof. Schröer mit begleitenden Lehrkräften

Im Zentrum stand das erste Buch von Platons Politeia, der sogenannte Thrasymachos, der auch als eigenständiger Frühdialog Platons gilt. Prof. Christian Schröer, bis 2023 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie mit Schwerpunkt Ethik in Augsburg und seit Gründung philosophischer Beirat der Timaios-Gesellschaft, führte uns durch die Inhalte des Textes und zeigte dessen fundamentale Bedeutung für unsere Rechtsauffassung bis ins deutsche Grundgesetz hinein. Für seinen Vortrag hatte Andreas Walch, der Schulleiter des Rabanus-Maurus-Gymnasiums, den Rittersaal ausgesucht, der eine sehr angenehme Atmosphäre bot.

Gastgeber StD i.K. Andreas Walch, Prof. Christian Schröer, Roland Jurgeleit

Schröer begann mit einer protreptischen Einleitung, die allen Zuhörern verständlich machte, warum wir uns mit einem Text beschäftigen, der schließlich 2500 Jahre alt ist. Abgesehen davon, dass Platon einer der überragenden Denker unserer Geistesgeschichte ist, bietet das Thema, dem sich die Politeia insgesamt widmet, eine Auseinandersetzung mit einer der wichtigsten Fragen der Menschheit: Was ist Gerechtigkeit? Im konkreten Fall spielen bei der Beantwortung dieser Frage derart unterschiedliche Gesichtspunkte eine Rolle (Neutralität, Gegenseitigkeit, Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit, Bedürftigkeit usw.), dass es, wie John Stewart Mill formulierte, doch einige Schwierigkeit bereitet, die gedankliche Verbindung zu erfassen, die diesen Begriff zusammenhält, von der aber das sittliche Empfinden, das dem Begriff anhaftet, wesentlich abhängt.

Im Gang durch den Text zeigte Schröer drei sich ergänzende Definitionen, die Platon in diesem Dialog herausarbeitet:

  1. Im Gespräch mit dem alten Kephalos ergibt sich die Bestimmung: Gerecht ist, jedem das Seine zuzuteilen.
  2. Sein Sohn Polemarchos, der das Gespräch vom Vater übernimmt, erklärt im Anschluss an Simonides: Gerecht ist, keinem zu schaden.
  3. In der Diskussion mit Thrasymachos, der eine ganz gegensätzliche These vertritt und durchfechten will, ringt Sokrates ihm schließlich die Zustimmung ab: Gerecht ist, was einem guten Leben für alle unter einvernehmlichen Regeln dient.

Während die These von Kephalos zwar ihre Grenze findet (einem in Raserei Verfallenen darf man seine Waffe in diesem Zustand nicht aushändigen, auch wenn sie sein Besitz ist), dann aber nicht weiter erörtert wird, muss Polemarchos im Verlauf des Gesprächs mit Sokrates einsehen, dass seine ursprüngliche Ansicht, Gerechtigkeit würde bedeuten, Freunden zu nützen und Feinden zu schaden, im zweiten Teil fehlerhaft ist; denn, so muss er erkennen, Feinde werden, wenn man ihnen schadet, schlechter, nicht besser, und so erreicht man das Gegenteil von Gerechtigkeit, weil Gerechtigkeit gewiss nicht darin bestehen kann, jemanden schlechter, d.h. ungerechter zu machen.

Diese Erörterung bricht allerdings ab, denn der Sophist Thrasymachos, der sich während der ersten beiden Dialogteile nur mit Mühe zurückhalten kann, stellt nun eine These auf, die in eklatantem Widerspruch zur allgemeinen Auffassung dessen, was Gerechtigkeit bedeutet, steht: Gerechtigkeit sei das, was dem Stärkeren zuträglich ist, und darüber hinaus sei vollkommene Ungerechtigkeit lohnender als vollkommene Gerechtigkeit. Dies sei die Grundlage allen Regierens, weil sich der Regierende als klüger und weiser und somit der vollkommen Ungerechte als der vollkommen Gute erweise.

Sokrates hingegen widerlegt in seinem Elenchos die These des Thrasymachos Punkt für Punkt, indem er zeigt, dass die beste Verfassung (Tauglichkeit, Arete) eines Regierenden darin besteht, das Gut des Regierten zu verwirklichen. In gleicher Weise ist die Seele dann am besten in der Lage, ihr bedeutendstes Werk, ein menschliches Leben zu leben, auszuführen, wenn sie über die dafür nötige übergreifende beste Verfassung (Tauglichkeit, Arete) verfügt: die Gerechtigkeit. Ein gutes Leben ist glücklich und insofern auch lohnender als ein unglückliches Leben. Damit hat Sokrates sein Ziel erreicht:

Ein vollkommen gerechtes Leben erscheint also lohnender als ein vollkommen ungerechtes Leben – und nicht umgekehrt.

Wie ist nun das Ergebnis dieses Dialogs Thrasymachos zu verstehen? Vordergründig sieht es so aus, als wäre Sokrates gescheitert. Er beklagt auch, dass er nicht gefunden hat, was das Gerechte ist. Hier aber hat Schröer eine überraschende Erkenntnis bereit: Die drei genannten Definitionen sind für sich genommen keine hinreichenden Bedingungen für die Bestimmung dessen, was gerecht ist, allerdings sind es notwendige Bestandteile. Zusammengenommen ergibt sich aus ihnen aber sehr wohl eine hinreichende Bedingung für ein gerechtes Zusammenleben. Denn gerecht, so müsse man Platon hier verstehen, sei das Zusammenleben der Menschen nur dann, wenn man sagen kann

Jedem wird das Seine zugeteilt.

Niemand wird geschädigt.

Alles dient immer auch einvernehmlich einem gemeinsamen guten Leben.

Die Wirkungsgeschichte dieser Einsicht erweist sich als gewaltig. Nicht nur im Corpus Juris Civilis (CIC), das seit dem sechsten Jahrhundert die allgemeinen Rechtsnormen bis in unsere Zeit festgelegt hat, werden diese drei Bestimmungen aufgenommen, es hat vielmehr in entscheidender Weise unser Grundgesetz beeinflusst, und zwar in Art. 2:

„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

Folgt man dem genannten Grundverständnis aller Gerechtigkeit, finden alle sonstigen Prinzipien der Gerechtigkeit ihre Berechtigung und Grenze darin, dass sie den genannten drei Bedingungen des Gerechten genügen:

Gerecht ist etwas nur dann,

  • wenn das Seine (die Würde / die Freiheit) des einen
  • unbeschadet mit dem Seinen (der Würde / der Freiheit) des anderen
  • unter einvernehmlichen Regeln vereinbar erscheint.

Genau das zu gewährleisten, so schließt Schröer seinen interessanten und anregenden Vortrag ab, ist die Aufgabe der Gerechtigkeit.

Arbeitskreise am Nachmittag

  1. Welche Rolle spielt das Ergon-Argument im Nachweis dafür, dass die Gerechtigkeit nützlich ist? Wiedergabe des Arguments.
  2. Thrasymachos sagt über die Gerechtigkeit: πανταχοῦ εἶναι τὸ αὐτὸ δίκαιον, τὸ τοῦ κρείττονος συμφέρον. Wo zeigt sich eine derartige Beziehung zur Nützlichkeit bzw. zum Nutzen in der heutigen Welt?
  3. Im Thrasymachos wird das Verhältnis von Gerechtigkeit und Nutzen diskutiert. Welche Beziehung gelten zu andren Werten (Weisheit, Wahrheit, Besonnenheit, Frömmigkeit …)?
  4. Gerechtigkeit in der Schule im Spiegel des „Thrasymachos“ anhand von Beispielen.
  5. Intepretation der Abbildung der Iustitia; Deutung im Hinblick auf den Thrasymachos.

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