Antike Sophistik und moderner Populismus

Das Team der Timaios-Gesellschaft aus Ettal

Vortrag gehalten beim 1. Symposium humanisticum Ettalense
am 9. Dezember 2016 im Lesesaal des Internats der Benediktinerabtei Ettal

Populismus heute

Die Süddeutsche Zeitung spricht nach der Wahl von Donald Trump in den USA von einer populistischen Welle zwischen den Rocky Mountains und den Karpaten (Ausgabe vom 5. 12. 2016). Machen wir uns das einmal klar: Die Rocky Mountains sind ein Faltengebirge im westlichen Nordamerika, die Karpaten ein hauptsächlich in Rumänien gelegener Gebirgszug. Diese geographische Lokalisierung umfasst also das Gesamtgebiet, das als „der Westen“ oder „das Abendland“ unsere geistige und moralische Heimat darstellt, im Gegensatz etwa zu den Völkern und Traditionen Asiens oder anderer Erdteile.

Ich sage Ihnen nichts Neues, wenn ich die betroffenen Länder und die entsprechenden Fakten aufzähle:

  • in den USA hat Donald Trump in einem beispiellos populistischen Wahlkampf gegen alle Eliten der Nation und Parteigremien sogar des eigenen Lagers die Wahl gewonnen
  • Die Mehrheit der Bevölkerung Großbritanniens hat sich entschieden, einer national-populistischer Argumentation zu folgen und den Brexit zu beschließen
  • in Polen und Ungarn stellen die Nationalpopulisten die Regierung
  • in Österreich, in der Schweiz, in Dänemark, Schweden und den Niederlanden prägen die Nationalpopulisten die Politik erheblich mit
  • in Frankreich gewinnt der rechtspopulistische Front National unter Marine le Pen ständig an Einfluss
  • die nationalpopulistische AfD ist die neue politische Macht in Deutschland, vor der die etablierten Parteien zittern

Kurz: Wo die Populisten nicht schon die Herrschaft übernommen haben, starrt die etablierte Politik wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf die jeweilige landestypische Ausprägung dieses Phänomens und weiß nicht, wie sie sich dazu verhalten soll. Es herrscht Angst, Europa könnte in einen nationalpopulistischen Strudel geraten, der uns bei der Bemühung der Annäherung der Völker untereinander mindestens um ein halbes Jahrhundert zurückwirft. Wie, fragt man sich augenreibend, konnte es angesichts der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert soweit kommen?

Gründe für den Populismus

Scharfsinnige Analysen dazu gibt es derzeit zuhauf aus berufener Feder, ich will hier keine neue hinzufügen. Es wurden viele veritable Gründe für die zu beobachtende Entwicklung namhaft gemacht, wie

  • die sich in rasender Geschwindigkeit immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich, die in populistischer Verzerrung mit dem Gegensatz von Elite und Volk gleichgesetzt wird (ich erinnere nur an den Milliardär Warren Buffet, der sagte: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.“ Interview mit Ben Stein in New York Times, 26.11.2006 [There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.])
  • die Entfernung der politischen Klasse von einem Großteil der Bevölkerung – dazu ein Zitat: „Natürlich interpretieren die Ressentimentbeladenen in jedem Nationalstaat ihre Identität ein bisschen anders, aber ihre Meinung ist einhellig über die metrosexuellen Latte-Macchiato-Bewohner der Metropolen mit ihren unverständlichen, meist englischsprachigen Obsessionen, ob LGBTQ, Gendermainstreaming, Refugees welcome, Veggie days, Climate change oder der vierfachen Mülltrennung mit separatem Komposttütchen. Das Problem der Volksparteien ist, dass sie sich im Zuge ihrer eigenen Modernisierung mit diesen Themen so verheiratet haben, dass ihnen der Zugang zur Pizzeria oder zur Raucherkneipe in der Provinz mit Bockwurst und Bommerlunder immer schwerer fällt. Dort werden Themen verhandelt, die den aufgeklärten Metropolenbewohner schaudern lassen: zu viel Islam, zu viele „Asylanten“, zu viele Einwanderer ins Sozialsystem, zu viele Einbrecher vom Balkan, zu wenig Polizei, zu wenig Kontrolle an den Grenzen, in einem Wort: Staatsversagen.“[1]
  • die Angst derer, die sich von der aktuellen Entwicklung abgekoppelt fühlen, vor dem Souveränitätsverlust des eigenen Landes in einem geeinten Europa
  • und nicht zuletzt, wie soeben in dem Zitat schon angeklungen: die Flüchtlingswelle und die Angst vor Überfremdung.

Es liegt freilich nicht in meiner Absicht, mit dieser Liste eine umfassende oder gar vollständige Aufzählung der möglichen Gründe zu geben. Deutlich wird indes an den Beispielen, dass die genannten Momente im Unverfügbaren liegen. Es handelt sich also weder um den Inhalt der Lohntüte noch um die Höhe der Steuern oder sonstige Fakten, die traditionell bisher zur Abwahl einer Regierung geführt haben, sondern um diffuse Ängste, die nicht etwa durch die Verabschiedung eines einschlägigen Gesetzes beseitigt werden können. Zwar werden auch konkrete Befürchtungen geäußert wie Überfremdungsgefahr und Anstieg der Kriminalität durch Zuwanderung, sogar Verlust des Arbeitsplatzes, aber sobald es an harte Fakten oder konkrete Zahlen geht, ergeben diese meist ein ganz anderes Bild als das in den Befürchtungen beschworene. Das wissen die Populisten so gut wie ihre Anhänger, weshalb sie sich bei ihrer sogenannten „Analyse“ der Situation üblicherweise ans Vage halten und schwer bis gar nicht zu beweisende bzw. zu widerlegende Behauptungen aufstellen, die wiederum hauptsächlich diffuse Ängste fördern.

Beispiele?

Auf den statistisch eindeutigen Befund, dass die Kriminalität seit 2015 nicht angestiegen ist, antwortet der Populist: „Dann fragen Sie mal die Frauen, die Silvester am Kölner Hbf den sexuellen Angriffen ausgesetzt waren.“ Oder er verweist auf den Mordfall vom Oktober 2016 in Freiburg. Oder er spricht ganz einfach von Ausländerkriminalität, ohne eine konkrete Behauptung dazu aufzustellen. Das allein genügt, um einen bestimmten Eindruck zu erzielen: Er schürt nicht-konkrete Ängste und verknüpft den Begriff Ausländer mit dem des Kriminellen so stark, dass eine assoziative Kopplung entsteht.

Oder: In der öffentlichen Diskussion spricht man meist von ca. 1 Mio Einwanderern, die in der Flüchtlingswelle von 2015 nach Deutschland gekommen seien. Das entspricht einem Prozentsatz von etwa 1,2 %. Um die Bedeutung dieser Zahl zu verstehen, vergleiche man nur einmal den seit vielen Jahren in etwa gleich hohen Ausländeranteil in Düsseldorf und Köln: Der liegt bei 17 %! Aber die Populisten reden von absoluten Zahlen, die nicht verkraftbar seien, werfen die Zahlen der weltweiten Migration, die im wesentlichen klimatische Gründe hat und keineswegs auf Deutschland zielt, in die Diskussion oder bringen lokale Beispiele misslungener Integration vor (die es freilich auch gibt – wie sollte es nicht?), mit denen sie in öffentlichen Diskussionen, wie immer wieder im TV zu beobachten, die Aufmerksamkeit der gesamten Gesprächsrunde von der Hauptsache, dem Missverhältnis von Realität und vorgebrachtem Einzelfall, geschickt abzulenken verstehen; denn sobald er erwähnt wird,  muss der Einzelfall selbstverständlich auch gewürdigt werden. Dass dieser Einzelfall indes nichts mit der grundsätzliche Tendenz zu tun hat, gerät dabei völlig aus dem Fokus.

Die Waffen des Populismus

Flankierend zu dieser Form des Angstschürens in der Bevölkerung haben die Populisten vor allem vier Waffen in ihr Arsenal aufgenommen, die von ungeheurer Tragweite sind.

  1. Zu nennen sind als erstes die Begriffe „Lügen-“ bzw. „Lückenpresse“ mit denen die Kontrollfunktion der sogenannten Vierten Gewalt im Staat ausgeschaltet werden soll. Dabei legt das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 25. April 1972 fest, dass „die freie geistige Auseinandersetzung ein Lebenselement der freiheitlichen demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik und für diese Ordnung schlechthin konstituierend [ist]. Sie beruht entscheidend auf der Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, die als gleichwertige Garanten selbständig nebeneinander stehen.“[2] Diese freie geistige Auseinandersetzung ist den Populisten indes ein Dorn im Auge; denn sobald jemand in den Medien öffentlich Kritik an rechtspopulistischen Positionen äußert oder den Populisten auch nur ihre Aussagen vorhält, rufen die Betroffenen reflexhaft „Lückenpresse“ oder „Lügenpresse“ und fordern ein „ganzheitliches journalistisches Ethos“ ein. Dies ist eine ungeheuerliche und höchst gefährliche Verdrehung der Tatsachen: Wenn es der AfD etwa in Deutschland gelingen sollte, die Berichterstattung der unabhängigen Presse zu diffamieren, kann sie ohne weitere Kontrolle allein bestimmen, was als Wahrheit zu gelten hat und welchen Ruf und welches Image die Partei und ihre Vertreter in der Bevölkerung haben. Berlusconi hat das damals in Italien auch geschafft, aber auf anderem Weg, indem er nämlich alleiniger Inhaber sämtlicher maßgeblicher Medien des Landes war. Ressourcen diesen Ausmaßes stehen der AfD zwar nicht zur Verfügung. Die hiesigen Populisten vergeben aber an jegliche öffentliche Darstellung außer der aus ihrem eigenen Hause kommenden das Etikett „Lügenpresse“, um sich mit nicht genehmem Widerspruch gar nicht erst auseinandersetzen zu müssen. Unkritisch, wie die Gefolgschaft der Populisten per definitionem ist, übernimmt diese die mit dem Etikett gegebene Diffamierung und sorgt selbst – man sehe sich nur einmal auf YouTube um – für die entsprechende Überwachung der inkriminierten Organe.

So beispielhaft geschehen vor einer Woche in Garmisch, wie im Kreisboten für den Landkreis Garmisch-Partenkirchen zu lesen war. Bei einer AfD-Veranstaltung wies ein „Mitsiebziger vom Nebentisch“ die Journalistin Lilian Edenhofer „in strengem Ton“ zurecht: „Junge Frau, ich habe durch mein rechtes Brillenglas gelinst und ganz genau beobachtet, wann Sie mitnotieren. Sie sind selektiv, Sie sind nicht fair, Sie müssen neutral sein. Sie brauchen sich gar nicht wundern, wenn Sie als Lücken- oder Lügenpresse bezeichnet werden.“ (Kreisbote v. 6. 12. 2016) Ganz abgesehen davon, dass der Begriff „selektiv“ kein Wertprädikat ist, erschreckt an der Aussage des älteren Herren eine Haltung, die dem nahekommt, was man üblicherweise als Blockwartmentalität bezeichnet: Verhaltensweisen, die von einer vorgegebenen ideologischen Linie tatsächlich oder scheinbar abweichen bzw. die auch nur einer Abweichung verdächtig sind, werden vom „wachsamen Bürger“, als welcher sich der ältere Herr wohl selber sieht, an den Pranger gestellt.

Noch ein Wort zum Begriff „selektiv“: Viel eher als jeden anderen trifft gerade den Anhänger der Populisten der Vorwurf, eine selektive Sicht zu haben; denn das Etikett „Lügenpresse“ verhindert gerade die Auseinandersetzung mit unabhängigen, nicht-populistischen Standpunkten. Und sollte der Populistenjünger in den sozialen Netzwerken aktiv sein, ist es noch viel schlimmer um ihn bestellt: Deren Algorithmen versuchen ja, wie man von Facebook etwa sehr genau weiß, den Nutzer nur mit dessen Vorlieben zu umschmeicheln und durch gezielte Vorschläge aus seinen bevorzugten Themenfeldern zu möglichst vielen Klicks zu verleiten, während gegenteilige Standpunkte, Themen oder Stellungnahmen von der Plattform peinlichst unterdrückt werden. Das erst ist wirklich selektive Weltsicht.

  1. Zweitens ist es der Begriff „System“, wobei mit „System“ unsere Demokratie und deren Institutionen in abfälliger Weise qualifiziert werden sollen. Unterstellt wird dabei, dass sowohl Bundestag wie auch Regierung und Opposition ein, so ist den entsprechenden Einlassungen der Populisten zu entnehmen, korruptes Kartell zum Machterhalt bilden. Die populistische Partei stellt sich quasi als Robin Hood dar, die als einzige aufrechte gegen das Unrecht des Systems ankämpft. Eine heroische Pose! Es wird dabei der Eindruck erweckt, als sei das sogenannte System bereits als korrupt entlarvt, als hätten die Bürger bereits mehrheitlich erkannt, dass nur die Populisten integer seien.

Dies war besonders bei der (Wiederholung der) Bundespräsidentenwahl in Österreich am 4. 12. 2016 die von der FPÖ erhoffte Ausgangslage. Und wenn sich, wie es dann doch der Fall war, die Demokratie gegen die populistische Verführung fest und unbeeinflussbar zeigt, dann heißt es sofort: Das „System“ habe gesiegt (so der FPÖ-Vorsitzende Strache am Wahlabend im Fernsehinterview). Diese in ihrer Pauschalität unerträgliche Verunglimpfung des Staates steht freilich in seltsamem Widerspruch zur sonstigen besonders bewusst zur Schau getragenen Verehrung hoheitlicher Nationalsymbole (man erinnere sich nur an den Auftriff von Björn Höcke bei Günther Jauch am 18. 10. 2015, als er in der Talkshow demonstrativ eine deutsche Flagge über die Armlehne seines Sessels hängte).

  1. Als drittes wäre die Umdeutung des Begriffs „Elite“ zu einem Schimpfwort zu nennen. Im normalen Sprachverständnis meint man mit Elite vor allem eine Leistungselite, daneben aber auch eine Machtelite. In der Zusammensetzung „Eliteförderung“ kommt eine Anstrengung zum Ausdruck, die ein Staat, eine Gesellschaft unternimmt, um international konkurrenzfähig zu bleiben. Eliteförderung ist jedoch nicht nur national, sondern auch international von besonderer Wichtigkeit, um die jeweiligen Herausforderungen von Gesellschaft und Umwelt zu meistern. Die populistische Umdeutung des Begriffs negiert die Mehrdeutigkeit des Begriffs und verengt seine Bedeutung dahingehend, dass er zur Diffamierung einer nicht näher definierten Machtelite verkommt, die ungerechtfertigt sozusagen mehr vom Kuchen hat, was es selbstredend zu ändern gilt. Geschickt nutzen die Populisten hierbei den Neidfaktor, der immer schon einer der stärksten Triebkräfte für gesellschaftliche Veränderung war. Bei einem Blick in die sozialen Medien ist unschwer zu sehen, wie gern die Anhängerschaft der Populisten dieses Eliten-Bashing aufgreift – was freilich nur zu verständlich ist. Leider erkennen diese Anhänger der Populisten nicht, dass deren Wortführer unvermeidlich auf dem Wege sind, nach Ablösung des „Systems“ selbst eine neue Elite – eine dezidiert und unverhohlen an Macht orientierte Elite – zu bilden, während sich für das oft berufene Volk („populus“) wieder einmal nicht das Geringste ändern wird.
  2. Womit wir beim prominentesten der populistischen Werkzeuge angekommen sind: die Berufung auf das Volk. Wer das Volk ist, scheint aber davon abzuhängen, ob man der richtigen Ideologie anhängt. Als Werkzeug ist die Berufung auf den Willen des Volkes ausgesprochen probat; denn wer nun genau das Volk ist und was sein Wille, lässt sich im Moment der Bezugnahme nicht überprüfen. Zugleich dient diese Bezugnahme als Gegengewicht zur verpönten Elite. Dadurch fühlt sich das Volk aufgewertet und folgt umso williger dem populistischen Führer, der durch seine Berufung auf das Volk diesem in diesem Moment immer erst diktiert, was sein angeblicher Wille ist.

Die sophistischen Werkzeuge

Woran ist nun der Unterschied zwischen einem Populisten von einem seriösen Politiker festzumachen? Das hängt, wie aus dem bisher Gesagten schon zu erahnen ist, vor allem an der Art der Argumentation. Hier ist nun der Punkt, an dem die Sophistik ins Spiel kommt. Es ist just der Bereich der Argumentation, der Bereich der Rhetorik, wo wir im allgemeinen Sprachgebrauch den Sophisten verorten. Es stellt sich also die Frage, ob und welche Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit der antiken Sophistik für das Verständnis und das Umgehen mit dem modernen Populismus gewonnen werden können. Zunächst geht es also darum, abseits von allem common-sense und Klischee sich vor Augen zu führen, welche konstitutiven Momente das ausmachen, was man Sophistik nennt. Ich beziehe mich dabei auf die grundlegenden Ergebnisse der jüngeren Forschung zum Thema.[3]

Am profiliertesten treten uns die Sophisten in Platons Werk entgegen. Er hat den beiden bekanntesten Figuren, Protagoras und Gorgias, je einen Dialog gleichen Namens gewidmet. In diesen beiden prominenten Werken unter den Frühdialogen entlarvt Sokrates als Platons Wortführer die sophistische Kunst, die im Gorgias etwa als die Redekunst vorgestellt wird. Platons Analyse, zusammen mit der Auswertung dessen, was sowohl Aristoteles zur Sophistik sagt als auch was aus den Fragmenten von den Sophisten wie Gorgias, Protagoras, Hippias und anderen selbst erhebbar ist, ergibt in etwa folgendes Bild:

  1. Die sophistische Rede, griechisch der „Logos“ (λόγος), ist gewaltsam. Nicht durch Überzeugung, sondern mit Gewalt wird der Gegner widerlegt. Das zeigen u. a. die Ausdrücke, die in der Sophistik verwendet werden, um die Wirkung einer Rede zu beschreiben, wie „kataballein“ (καταβάλλειν), was so viel wie „niederwerfen“ bedeutet – ein Terminus technicus aus der Ringersprache. Der Sophist besitzt „Deinotes“ (δεινότης), d. h. Redegewandtheit, er beherrscht also die Rhetorik. Seinen Zuhörern ist deswegen zwar nicht ganz geheuer, aber gerade dadurch verfehlen seine Reden ihre Wirkung nicht, weil er durch seine Rhetorik Macht ausstrahlt und die Zuhörer froh sind, sich auf seiner Seite wähnen zu können.
  2. Als Methode benutzt er nicht den klassischen Beweis zum Aufweis seiner Richtigkeit, sondern das Verfahren des „Elenchos“ (ἔλεγχος). Diese Elenchoi, wie sie im Griechischen heißen, sind vorgefertigte Diskussionsmuster, die wie Versatzstücke eingesetzt werden – in etwa einem Arsenal von faulen Eiern vergleichbar, die man auf den Gegner wirft. Eine Vielzahl solcher Elenchoi hat Aristoteles in seiner gleichnamigen Schrift (Sophistikoi elenchoi, dt.: Sophistische Trugschlüsse) zusammengetragen. Den Elenchos in Aktion hat Platon in seiner Schrift Euthydemos wirkungsvoll in Szene gesetzt.
  3. Dabei gilt es, den rechten Augenblick, den „Kairos“ (καιρός) zu nutzen. Den Kairos zu erkennen ist die Kunstfertigkeit des Sophisten. Sobald er ihn erkannt hat, nutzt er ihn sofort und nachdrücklich, um rhetorisch zu punkten.
  4. Der Sophist vertritt entschieden das agonale Prinzip. Das bedeutet: Jede Auseinandersetzung gerät zum Agon, zum Redewettkampf. Es geht dem Sophisten also nicht um die Wahrheit, sondern um das Rechthaben. Der stärkere Logos, die stärkere Rede gewinnt. Es gibt also nicht etwas nur eine sachlich korrekte Darstellung, sondern immer mindestens zwei Reden zu einer Sache. Diese beiden Reden stehen im Wettstreit. Hierbei geht es dem Sophisten nicht um Wahrheit als Kriterium der Entscheidung, es gewinnt nicht das Wahre, sondern das relativ Stärkere. Um in diesem Agon, in diesem Wettkampf zu gewinnen, muss man also den Wettkampf antizipieren können, sozusagen vorausahnen, um den stärkeren Logos vortragen zu können. Dieser Agon besteht demnach nicht im Austausch von Sachargumenten, sondern in der Anfertigung eines Logos, der sich relativ zu einem anderen Logos als der stärkere erweist. Im Sinne des agonalen Prinzips steht am Ende der Redner als Sieger da, der den stärkeren Logos, die stärkere Rede vorträgt. Ihm wird, unabhängig von jedweder Sachebene, recht gegeben. Das geschieht dadurch, dass der stärkere Logos, „ho kreittōn logos“ (ὁ κρείττων λόγος) in den Seelen der Zuhörer wirkt, also den Zuhörer selbst zugleich mit der Aufnahme des Logos verändert.
  5. Daraus ergibt sich unmittelbar das inhärent Zirkuläre sophistischer Praxis: In Ermangelung jeglichen Bezugs zu einer objektiven Größe wie Wahrheit oder Richtigkeit wird der Betroffene, also der Zuhörer, zugleich zum Entscheider des Wettkampfs, das Gemessene, um es allgemein auszudrücken, wird somit zum Maß. Das Zirkuläre sophistischer Praxis ist ihr entscheidendes Merkmal. Sophistischen Reden fehlt also jegliche Substanz, da sie allein darauf ausgerichtet sind, im Wettstreit mit einer anderen Rede sich als die stärkeren zu erweisen. Sie sind nicht im Hinblick auf Wahrheit verfasst, sondern im Hinblick auf Könnerschaft. Dazu gehört dann in der Gesprächssituation Gewandtheit und Schnelligkeit des Denkens.
  6. Der Bereich sophistischer Tätigkeit ist die menschliche Doxa, also der Bereich, der wissenschaftlichem Zugriff entzogen ist. Es ist der Bereich der ungeprüften Überzeugungen, der alltäglichen Urteile in menschlichen Angelegenheiten. Die Sophisten betonen die Notwendigkeit dieser Überzeugungen und Urteile als konstitutive Elemente der menschlichen Seele. Indem dieser Bereich systematische Aufmerksamkeit erfährt, gerät der Bereich, in dem Wahrheit oder Richtigkeit als Kriterium ihren Bestand haben, aus dem Blickfeld. Weil also insofern kein unabhängiger Maßstab mehr in den Blick kommt, kann der Sophist damit rechnen, wenn seine Rede als die stärkere die Seelen der Zuhörer verändert hat, uneingeschränkt Recht zu bekommen. Dieses Recht-Bekommen besteht freilich nur in der Zustimmung der Zuhörer.

Geradewegs in derselben Weise ist auch der berühmte Homo-Mensura-Satz des Protagoras zu verstehen: Πάντων χρημάτων μέτρον ἐστὶν ἄνθρωπος, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστιν, τῶν δὲ οὐκ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν.

Auf Deutsch: „Aller Dinge Maß ist (der) Mensch, der seienden, dass sie sind, der aber nicht seienden, dass sie nicht sind.“

Es geht also um das volle Maß des Wirklichen, das der menschlichen Erkenntnis laut den Sophisten schon immer angemessen ist, wobei der Mensch als Maß nicht Kriterium ist. Das Metron „Mensch“ ist nämlich sachimmanent, und zwar insofern, als es außer diesen beiden genannten Bereichen, den Seienden, den „Onta“ (ὄντα), und den Nicht-Seienden, den „ouk Onta“ (οὐκ ὄντα), nichts gibt, da diese beiden Bereiche den gesamten Wirklichkeitsbereich (πάντων χρημάτων) ausmachen. Der Mensch als Seiendes (ὤν) steht nicht außerhalb dieser Seinsbereiche, stellt also kein Kriterium dar, an dem sich die Eigenschaft eines Seienden zeigen könnte. Beispiel: Ob eine Flüssigkeit sauer oder basisch ist, erweist der Test mit Lakmuspapier. Das Lakmuspapier ist also für die Erkenntnis ein Kriterium, ein Scheidewerkzeug, zwischen sauer und basisch, weil es etwas anderes ist als die Lösung (Säure, Lauge). Der Mensch allerdings ist mit seiner Erkenntnis nicht in gleicher Weise Kriterium dafür, ob etwas ist oder nicht ist, weil sich nicht an seiner Erkenntnis entscheidet, ob etwas ist oder nicht, sondern die Dinge sind vorher schon oder sind nicht: Der Mensch ist Maß der seienden Dinge, dass sie sind, und der nicht-seienden Dinge, dass sie nicht sind, weil er selbst zu dem Erfahrungsbereich gehört, für den er Maß ist. Die einzige Welt, die für den Sophisten existiert und in der er agiert, ist die Welt der menschlichen Doxa, also des gesunden Menschenverstandes oder des common-sense, könnten wir modern sagen. Philosophisch gesehen operiert die Sophistik daher mit einem bemitleidenswert naiven Phänomenbegriff: Die Dinge sind eben so, wie sie erscheinen; denn entweder sind sie mir phänomenhaft gegeben, dann sind sie (im Sinne von existieren), oder sie erscheinen mir nicht als Phänomen, dann sind sie auch nicht. Es sei nur am Rande bemerkt, dass ein solcher Phänomenbegriff nicht nur philosophisch-theologisch, sondern auch naturwissenschaftlich völlig inakzeptabel ist.

  1. Diese Gesamtheit des Lebens, der im Homo-Mensura-Satz des Protagoras angesprochen wird, will die sophistische Technē (τέχνη) in den Griff bekommen. Technē bedeutet im Griechischen so viel wie Kunst, Handwerk und Technik. Als Konkurrenzentwurf zu den bürgerlichen bzw. traditionellen Technai pflegten die Sophisten eine eigene Technē, die universal sein sollte und alle anderen Technai ersetzen. So behauptet Gorgias im gleichnamigen platonischen Dialog, er könne besser über die Medizin reden als ein Arzt, so dass ein Laie zweifelsfrei überzeugt werden könne, er sei als Arzt zu wählen und nicht derjenige, der es tatsächlich ist.[4] Wie man an dem Beispiel sieht, unterliegt diese sophistische Technē aber ebenso einem Zirkelproblem: Sie kann keine Begründung von einem Punkt außerhalb beziehen, sondern sich nur durch den praktischen Vollzug ihrer selbst empfehlen und rechtfertigen.
  2. Der Logos geht also auf Praxis aus, d. h. auf ein Handeln, das nicht auf das Hervorbringen ausgerichtet ist (eine Unterscheidung, die erst Aristoteles explizit vornimmt). Der sophistische Logos gestaltet Welt in sophistischer Auffassung, das heißt die Praxis hat das Ziel in sich, sie hat keinen Stand- oder Zielpunkt außerhalb ihrer selbst. Den Gegenbegriff dazu bildet die Poiesis (die Herstellung), die das Ziel ihrer Handlung außerhalb ihrer selbst hat, indem sie ein Produkt herstellt. Dabei sind die Sophisten keineswegs progressive Neuerer, wie man sie zuweilen gerne sieht, vor allem, wenn man von der Zeit ihres Auftretens Mitte des 5. Jhdts. v. Chr. als von der Zeit der „sophistischen Aufklärung“ spricht. Sie waren vielmehr konservativ und blieben der überkommenen Werteordnung verhaftet – wohl auch deshalb, weil sie ihre Schüler aus den Reihen der Aristokratie rekrutierten und die Väter dieser Schüler naturgemäß eher konservativ ausgerichtet waren.

Sophistische Techniken im heutigen Populismus

Die bei der Interpretation der Sophistik erkannten Momente lassen sich ohne weiteres auf den heutigen Populismus übertragen:

  1. Gewaltsam, Redegewandtheit: Es ist unschwer zu erkennen, dass der populistische Logos in ähnlicher Weise gewaltsam auftritt wie der sophistische. Beiden geht es darum, den Gegner niederzuringen. Populisten verstehen es ganz ausgezeichnet, mit dem Bewusstsein der Überlegenheit aufzutreten.
  2. Elenktik: Unübersehbar werden von populistischen Agitatoren rhetorische Tricks verwendet. Diese „faulen Eier“ halten die heutigen Populisten genauso bereit wie die antiken Sophisten.
  3. Kairos (rechter Augenblick): Hier sei an die zahlreichen Beispiele aus Fernsehdiskussionen mit Vertretern des heutigen Populismus erinnert, bei denen diese eine nebensächliche Äußerung eines „Gegners“ aufgreifen und zur Hauptsache des Gesprächs umfunktionieren: Das sind Schulbeispiele für die Bedeutung des „Kairos“ für die technisch-manipulative Vorgehensweise sophistisch geschulter Populistenführer in öffentlichen Diskussionen.
  4. Agonales Prinzip: Jede Rede eines Populisten richtet sich gegen etwas. Keine Rede ist eine sachliche Argumentation für eine Entscheidung oder eine Option, es ist immer eine „Rede gegen“: das System, die Elite, die Presse, den aktuellen Gesprächspartner usw.
  5. Fehlendes Wahrheitskriterium, dafür aber Könnerschaft: Es wird keine Instanz von außerhalb zugelassen. Mögliche Instanzen wären: wissenschaftliche Tatsachen, Urteile von Spezialisten, Pressenachrichten. Diese Zugangswege zu externen Kriterien werden aber durch die Diffamierung der entsprechenden Instanzen (Politik, Presse, Elite) von vornherein blockiert. Der Populist perfektioniert sich vielmehr in der Könnerschaft. Der Sieg im agonalen Kampf gegen einen Gegner ist das Höchste, was angestrebt wird.
  6. Bereich des Common-sense – Mensch als Maß: Indem jede sachlich-wissenschaftliche Ebene ausgeklammert wird, gibt es nur den Horizont des Common-sense als Wahrheitskriterium. Alle Themen, die überhaupt von Belang sind, beziehen sich auf den Bereich dessen, was dem Menschen angemessen ist, also letztlich stets auf den Common-sense.
  7. Sophistische Technē: Der Populismus will die Spielregeln für den Diskurs, für das Zusammenleben, für alles allein bestimmen. Er will mit seiner Technik die bisher gültigen Spielregeln außer Kraft setzen.
  8. Praxis statt Poiesis: Populistisches Tun erschöpft sich darin, das Herkömmliche in je eigener Weise zu ordnen, eine definierte Praxis als Vollzug zu pflegen, ohne das Hervorbringen von Neuem (Poiesis) anzuzielen. Populismus ist also konservativ und tut sich mit Neuem schwer.

Unterschiede zwischen Sophistik und Populismus

Ich möchte hier vor allem zwei grundlegende Unterschiede nennen, an denen sich zeigt, dass die heutigen Populisten nur formal bei den Sophisten in die Schule gegangen sind.

1. Erziehung

Die Sophisten sind uns vor allem als Lehrer bekannt, die sich angeboten haben, jedem das kleine oder auch große Einmaleins des politischen Erfolgs beizubringen – er musste nur entsprechend viel bezahlen. Sie galten als die Fachleute, denen man sein Kind anvertraute, wenn man wollte, dass es einmal Großes erreichen soll. Dieser Erziehungsgedanke fehlt im modernen Populismus völlig. Im Gegensatz zum Sophisten, der selbst keinerlei Amt anstrebte, versuchen die Populistenführer mithilfe der ihr verfallenen Klientel an die Macht zu kommen, um eben die neue Macht-Elite zu werden.

2. Verhältnis zum Staat

Die Sophisten hatten – nicht nur durch ihr Engagement als Lehrer in den angesehensten Familien – grundsätzlich ein positives Verhältnis zum Staat und der attischen Demokratie, weil sie nur in ihrem Umfeld die eigene Wirkung entfalten konnten. Insofern liegt dem Sophisten eine Diffamierung, wie sie der heutige Populist mit dem Begriff „System“ vornimmt, vollkommen fern. Im Gegenteil: Sophisten wie Protagoras oder Gorgias wurden von Athen als Gesandte in besonder heiklen Missionen eingesetzt. Dies wäre bei unseren heutigen Populistenführern völlig undenkbar.

Resümee

Die Ähnlichkeit von Sophistik und Populismus zeigte sich hauptsächlich auf dem Gebiet der Argumentation. Beide Bewegungen operieren auf einem Gebiet konkurrierender Bestimmungen, da sie auf einen erfahrungstranszendenten, außerhalb ihres Tuns selbst gelegenen Punkt als objektives Kriterium verzichten. Daher ist sophistisches wie populistisches Argumentieren wesentlich und unauflöslich zirkulär. Wahrheit, und sei sie auch nur intersubjektiv vermittelt, liegt nicht im Fokus, sie ist weder dem Sophisten noch dem Populisten überhaupt zugänglich. Populismus ist insofern auch nicht realpolitikfähig, weil er auf Fakten verzichtet. Es geht ihm ausschließlich um Machtgewinn, das vielberufene Volk dient lediglich als Basis, um die Populistenführer an die Macht zu spülen und als neue herrschende Klasse zu etablieren.

Insofern zeigt sich ein weiterer gravierender Unterschied zwischen Sophistik und modernem Populismus: Die Sophistik bekämpfte nicht die bestehende Verfassung, sie lehrte nur die von vornherein designierten jungen Leute, wie man sich die existierenden Mechanismen der Macht zunutze macht, um eine prominente Rolle im Staat zu spielen, ohne eigene Machtinteressen zu verfolgen. Die Führer des modernen Populismus greifen indes frontal die bestehenden Verhältnisse an, um sehr wohl eigene Machtinteressen durchzusetzen, wobei die Berufung auf das Volk und dessen Willen das beständige Feigenblatt darstellt – eine Technik, die aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts wohlbekannt ist.

[1] Es ist die Kultur, Dummkopf!, Kolumne „Fünf vor acht“ von Michael Thumann in der ZEIT ONLINE, Nov. 2016 [http://www.zeit.de/politik/2016-11/populismus-volksparteien-afd-rentenerhoehung-polen-5vor8], abgerufen am 05.12.16

[2] zit. nach Wikipedia, Art. „Vierte Gewalt“ [https://de.wikipedia.org/wiki/Vierte_Gewalt], abgerufen am 05.12.2016

[3] v. a. auf Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. Hamburg [Meiner] 1986

[4] Plat., Gorg. 456b6–c2

 

Autor: Roland Jurgeleit

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