Corona oder Freiheit – eine Alternative?

Das Team der Timaios-Gesellschaft aus Ettal

An sich, so scheint es jedenfalls, gibt es nichts Vernünftigeres, als sich an die Corona-Regeln zu halten. Wenn jede und jeder die Regeln AHA (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske) bzw. AHAAL (AHA ergänzt durch Corona-App und Lüften) befolgt, können wir das Virus im Zaum halten. Und wenn wir das noch einige Monate durchhalten, wird es einen Impfstoff geben. Und dann können wir zu unserem gewohnten Vor-Corona-Leben zurückkehren. Die virologischen und epidemiologischen Fakten und Erkenntnisse geben die Kriterien vor, nach denen die Politik ihre Anweisungen formuliert.

So vernünftig das klingt, es regt sich vernehmlicher Widerstand. Wie kann das sein? Warum kämpft jemand gegen Maßnahmen, die sie oder ihn selbst, ihre oder seine Angehörigen, Freunde und die Mitmenschen schützen und eventuell sogar vor dem Tod retten? Selbst wenn solchen Gegner*innen staatlicher Maßnahmen das eigene Leben egal sein sollte, nehmen sie eine durch sie verursachte Erkrankung und unter Umständen sogar den von ihnen verursachten Tod von Menschen der eigenen, vielleicht sogar engsten Umgebung billigend in Kauf. Kann man eine solche Rücksichtslosigkeit, die selbst über Leichen geht, den Maßnahmengegner*innen grundsätzlich unterstellen? Mein Menschenbild jedenfalls wehrt sich dagegen.

Es scheint, als sei die Keimzelle dieser Abwehrhaltung gegen grundvernünftige Maßnahmen und Verhaltensweisen nicht in einer rationalen, sondern in einer emotionalen Ablehnung dieser Maßnahmen und Verhaltensregeln zu suchen. Offenbar gibt es genügend sozial schwachbelichtete Existenzen oder knallharte Egozentriker, deren Weltbild schwer ins Wanken gerät, wenn sie nicht mehr lemmingsgleich in Kino, Kneipe oder Club laufen dürfen, um dort das zu tun, was sie dort immer tun. Wie? Plötzlich sollte man sich Alternativen einfallen lassen? Da dies nicht gelingt, ist die weitere Entwicklung schon vorgezeichnet. Widerstreben einem nämlich die Maskenpflicht oder die Versammlungsbeschränkung bzw. das Abstandsgebot, versucht man, diese Ver- oder Gebote zu umgehen. Man entdeckt echte oder vermeintliche Widersprüche und zieht daraus die Berechtigung, die verhängten Maßnahmen und damit die seriösen wissenschaftlichen Aussagen generell abzulehnen.

In einem ersten Schritt werden also das SARS-CoV-2-Virus oder wenigstens seine Gefährlichkeit geleugnet. Die Reaktionsschema der Maßnahmengegner*innen ähnelt dem Verhalten eines Kleinkindes: Was es nicht mag, versucht es zu ignorieren, am eindrucksvollsten beim Versteckspielen zu beobachten: Das Kind hält sich die Augen zu und sagt: „Du siehst mich nicht.“ Ein erwachsener Mensch mit derartigem Verhalten gilt als bemitleidenswert naiv oder sogar als töricht. Entwicklungspsychologisch gilt ein solches Verhalten als schwer retardiert; denn Ignorieren stellt lediglich die erste, die kindliche Stufe im Umgang mit einem Konflikt dar. Weitere wären etwa Revolte, Kampf, Flucht, Kooperation – sie setzen aber schon ein Mindestmaß an Reflexion voraus.

In einem zweiten Schritt werden Gründe gesucht, das eigene Verhalten zu rechtfertigen, um dafür bei Mitmenschen Akzeptanz zu finden. Dazu wird in einem fragwürdig synkretistischen Verfahren alles herangezogen, was die eigene, eigentlich nur emotionale Protesthaltung irgendwie argumentativ zu stützen geeignet ist. Es ergibt sich ein Sammelsurium, wie es absurder nicht sein könnte: Impfgegner, Staatsfeinde, Aluhüte und jede sonstige Form von Verschwörungsphantasten. Ein gemeinsamer Gegner macht einig, die aus diesen Zutaten aber gedrehte Hamonisierungswurst ist ein abenteuerliches Konstrukt. Schon ein Kind macht mit Bauklötzen jedweder Art die Erfahrung, dass nicht jeder beliebige Stein zum anderen gefügt werden kann. Und genau deswegen spielt es mit Bauklötzen, um zu lernen, was zusammenpasst und was nicht. Wer es jedoch schafft, Impfpflicht, 5-G-Netz, Bill Gates, George Soros, die zionistische Weltverschwörung, Maskenpflicht und die sogenannte Elite auf einen Nenner zu bringen, der hat entweder den Kindergarten geschwänzt oder ihm muss ein Delirium fortgeschrittenen Grades attestiert werden.

Selbst diejenigen, die lediglich eine unerträgliche Einschränkung ihrer Grundrechte wittern, spotten jeder Beschreibung, da sie sich entgegenhalten lassen müssen, dass ihre Grundrechte dort nicht mehr universell sind, wo sie mit den Grundrechten anderer in Konflikt geraten. Wer auf seinem Grundrecht der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit lautstark herumhämmert, wird sicherlich auch ebenso großes Verständnis für diejenigen haben (müssen), die auf ihrem Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit bestehen. Inwiefern nämlich die Gesellschaft über dem Einzelnen steht, insofern wird letzteres höher zu bewerten sein als die individuelle Bewegungsfreiheit. Ein wackerer Grundrechtefan müsste das ohne weiteres einsehen. Im Zweifel kann er ja im Gründungsdokument für die Idee einer freien, offenen und toleranten Gesellschaft nachlesen, dem Epitaphios von Thukydides (2,37–41), wo dieser Zusammenhang deutlich wird. Vom heutigen Grundrechte-Pocher oder der Wutbürgerin wird er indes komplett ignoriert. Damit ähneln diese irritierenden Erscheinungsformen der zeitgenössischen Mitbürger*innen fatal der berühmten Karikatur des ignoranten Naivlings, der Kraftwerke ablehnt, weil er oder sie meint, der Strom käme ja aus der Steckdose, oder Petitionen gegen Sendemasten unterschreibt, aber lückenlosen Handyempfang für ein Grundrecht hält.

Wie lässt sich aber nicht nur vernunftgemäß auf der Sachebene, sondern auch ethisch auf einer moralischen Ebene begründen, dass sich jeder immer und überall an die coronabedingten Maßnahmen  zu halten hat, ohne Ausnahme? Hierzu werfen wir einen Blick in einen Dialog von Platon, der den Titel Kriton trägt. Die Szene ist, wie folgt: Sokrates wurde zum Tod durch den Schirlingsbecher verurteilt. Er sitzt im Gefängnis bis zur Hinrichtung. Sein Freund Kriton besucht ihn dort und drängt ihn, sich der Todesstrafe durch Flucht zu entziehen, er habe schon alles vorbereitet. Sein ausführliches Plädoyer für die Flucht (Platon, Kriton 44b5–46a8) bewegt sich ausschließlich auf der Ebene der sachlichen Vernunft: Es gebe sachliche Gründe dafür zu fliehen (sein eigenes Leben retten, seine Familie, die Freunde), die sachlichen Hindernisse (Wächter, Verräter, Verfolger, Bedarf an Geldmitteln) hätte man im Griff.

Sokrates antwortet (46a9–54e2) nicht explizit auf Kritons Ausführungen, er geht vielmehr einen Schritt weiter. Bei jeder Handlung kann nämlich die Frage gestellt werden: Und ist das gut so? Sachliche Alternativen (fliehen – bleiben) geraten damit unter eine ethische Perspektive. Das Kriterium für die Gutheit einer Handlungsalternative ist der eigene Lebensentwurf; denn ich kann nichts wählen, was ich persönlich nicht für gut halte. So werde ich immer tödliches Gift meiden. Wenn ich es doch absichtlich wähle, habe ich zuvor entschieden, dass es gut für mich ist, zu sterben. Deshalb formuliert Sokrates den für die antike Ethik zentralen Satz: „Nicht das Leben hat den höchsten Wert, sondern das gute Leben.“ (48b5f.) Dabei ist unter gut auch sittlich schön und gerecht zugleich verstanden. Das inkludiert auch den Satz, man darf in keiner Weise Unrecht tun – weder initiativ noch als Reaktion auf erlittenes Unrecht.

In einer berühmten Prosopopoiie führt Sokrates nun die Gesetze der Stadt als redende Personen ein. Sie stellen ihm die Frage, wie er jetzt plötzlich den Gehorsam verweigern könne, da er doch ein Leben lang mit ihnen und ihren Vorschriften einverstanden war und von ihnen profitiert hat. Er hat die Gesetze nie angezweifelt und im demokratischen Diskurs zu ändern versucht. Er hätte im Vorfeld auch auswandern können. Durch seine plötzliche Weigerung, ihnen jetzt zu folgen, zerstöre er sie, die Gesetze, die ihm überhaupt erst die Möglichkeit der Geburt, des Aufwachsens, der Bildung und persönlichen Entfaltung in Frieden und Sicherheit gegeben hätten. Er zerstöre sie, weil die Allgemeingültigkeit ein wesentliches Merkmal von Gesetzen sei. Wenn er allerdings als Individuum jetzt plötzlich diese Allgemeingültigkeit anzweifelt, weil es ihn selbst betrifft, und er sich den Gesetzen entzieht, bedeutet das deren Zerstörung. Dann kann er sie aber auch nie wieder für sich in Anspruch nehmen.

Daraus ergibt sich, dass man sich ohne Schaden für das Gemeinwesen nicht den Bestimmungen dieses Gemeinwesens entziehen darf, wenn mir diese Bestimmungen nicht gefallen. Was ich aber jederzeit darf, ist, im demokratischen Diskurs diese Bestimmungen zur Diskussion zu stellen. Und für die Maßnahmengegner*innen: Diskutieren ja, aber mit Maske und Abstand!


Autor: Roland Jurgeleit

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